Die qualitative Marktforschung steht häufig vor einem Rechtfertigungsproblem: Wie können kleine Stichproben von 10-12 Interviews zu verlässlichen Erkenntnissen über eine Customer Journey führen? Dieser Beitrag erklärt die wissenschaftlichen Grundlagen qualitativer Forschungsmethoden und zeigt, warum kleine, aber sorgfältig durchgeführte Studien wertvolle Einblicke in das Verbraucher- bzw. Entscheiderverhalten liefern können.
Theoretische Grundlagen der qualitativen Marktforschung
Die qualitative Forschung fußt auf einer reichen wissenschaftlichen Tradition. Bronisław Malinowski begründete mit seiner teilnehmenden Beobachtung die moderne Feldforschung. Die Grounded Theory von Barney Glaser und Anselm Strauss revolutionierte in den 1960er Jahren den qualitativen Forschungsprozess, indem sie einen systematischen Ansatz zur Theoriebildung aus empirischen Daten entwickelte.
Eine andere, die phänomenologische Tradition, basierend auf den Werken von Edmund Husserl und weiterentwickelt u. a. von Alfred Schütz, betont die Bedeutung des subjektiven Erlebens und der Lebenswelt (kleine Randbemerkung: Ich selbst beschäftige mich seit Jahren mit der Phänomenologie und halte dies für die ideale Schulung für die qualitative Forschung. Nachdem dieser philosophische Ansatz – obwohl aus Deutschland stammend – jahrelang eher ein Schattendasein gefristet hat, ist die wissenschaftliche Diskussion über Impulse aus Frankreich und den USA wieder hochaktuell). Die ethnomethodologische Forschung nach Harold Garfinkel untersucht, wie Menschen im Alltag Sinn konstruieren und soziale Ordnung herstellen. Zudem gibt es hermeneutishe Ansätze, wie z. B. die Objektive Hermeneutik von Ulrich Oevermann, mit der ich mich ebenfalls ein paar Jahre beschäftigt habe und die ich einmal mit Freunden kommerziell vorantreiben wollte. Es ist leicht zu erkennen, dass es zahlreiche Strömungen und Schulen gibt.
In der modernen Marktforschung hat besonders Clayton Christensen’s Jobs-to-be-Done (JTBD) Framework neue Maßstäbe gesetzt. Statt demografischer Merkmale stehen die tatsächlichen „Jobs“ im Fokus, die Kunden mit einem Produkt erledigen wollen. Dieser Ansatz ergänzt sich hervorragend mit der qualitativen Forschungstradition, da er ebenfalls auf das tiefe Verstehen von Motivationen und Handlungsmustern abzielt. Ebenfalls lässt sich der Buyer-Persona-Ansatz von Adele Revella der qualitativen Marktforschung zuordnen, auch wenn dieser ohne wissenschaftlichen Bezig entstanden ist.
Qualitative und quantitative Marktforschung im Vergleich
Die fundamentalen Unterschiede zwischen qualitativer und quantitativer Marktforschung zeigen sich in ihren Grundannahmen und Methoden. Während die qualitative Marktforschung auf tiefes Verstehen und explorative Erkenntnisgewinnung abzielt, fokussiert sich die quantitative Forschung auf messbare, standardisierte Daten.
Qualitative Ansätze zeichnen ihre interpretative Herangehensweise aus. Sie arbeiten bewusst mit kleinen Fallzahlen oder Gruppen, um eine intensive Auseinandersetzung mit den einzelnen Fällen zu ermöglichen.
Die quantitative Marktforschung hingegen operiert mit statistisch repräsentativen Stichproben und standardisierter Datenerfassung. Sie generiert numerische Daten durch geschlossene Fragen und zielt auf Aussagen über eine große Grundgesamtheit ab.
Beide Ansätze haben ihre Berechtigung und ergänzen sich idealerweise gegenseitig.
Jenseits statistischer Relevanz: Ein praktisches Beispiel
Die Frage nach der statistischen Relevanz kleiner Stichproben verkennt den eigentlichen Zweck qualitativer Forschung. Ein Beispiel aus der Praxis macht dies deutlich:
Stellen Sie sich vor, Sie möchten verstehen, warum Unternehmen ein bestimmtes CRM-System kaufen. Eine quantitative Umfrage mit 1000 Teilnehmern liefert Ihnen folgende Ergebnisse:
- 45 Prozent nennen Benutzerfreundlichkeit als wichtigstes Kriterium
- 30 Prozent priorisieren die Integrationsfähigkeit
- 25 Prozent entscheiden aufgrund des Preises
Diese Zahlen sind statistisch robust und repräsentativ. Doch für die Produktentwicklung und das Marketing fehlt entscheidendes Kontextwissen. Erst aufgrund der tiefgehenden qualitativen Interviews mit Entscheidungsträger:innen verstehen Sie:
- Was „Benutzerfreundlichkeit“ konkret bedeutet:
Für einen Vertriebsleiter ist es die mobile Nutzung beim Kunden, für eine Marketingmanagerin die automatische Datensynchronisation, für einen CEO sind es die übersichtlichen Reports. - Welche versteckten Schmerzpunkte existieren:
Ein wiederkehrendes Muster zeigt, dass die Integration von Kommunikationskanälen oft erst nach dem Kauf als kritisch erkannt wird. - Wie Kaufentscheidungen tatsächlich ablaufen:
Die formalen Auswahlkriterien werden häufig erst nachträglich zur Rechtfertigung einer bereits getroffenen Entscheidung herangezogen. - Welche Bedenken überwunden werden müssen:
Die Angst vor Datenverlust bei der Migration erweist sich als unterschätzter Blocker für den Systemwechsel.
Diese Erkenntnisse ermöglichen erst die Entwicklung wirksamer Marketingstrategien und Produktverbesserungen. Die statistische Relevanz ist dabei zweitrangig – entscheidend ist das Erkennen von Mustern und zugrundeliegenden Motivationen. Ein einzelnes tiefgehendes Interview kann dabei mehr handlungsrelevante Erkenntnisse liefern als hundert oberflächliche Fragebögen.
Qualitative Forschung in der Customer-Journey-Analyse
Qualitative Forschung erweist sich als besonders wertvoll für das Verständnis der Customer Journey. Mittels Tiefeninterviews gelingt es, das Kundenerlebnis in seinem natürlichen Umfeld zu erfassen. So berichtet ein Entscheider beispielsweise über seine vollständige Customer Journey mit allen Stationen und Entscheidungseinflüssen.
Ein anderer Ansatz ist die teilnehmende Beobachtung, die jedoch eher im B2C-Bereich zum Einsatz kommt, um z. B. Konsumenten bei dem Kauf oder der Verwendung eines Produkts zu beobachten. Dies ermöglicht tiefgehende Einblicke in Einstellungen und Verhaltensweisen der Entscheider bzw. Verbraucher. Die qualitative Forschung ermöglicht es dabei, soziale Prozesse in ihren Kontexten zu verstehen, die komplexen Wechselwirkungen zwischen mehreren Faktoren zu erfassen sowie Typologien z. B. von Käufergruppen zu entwickeln.
Vorteile der qualitativen Marktforschung
Die besondere Stärke qualitativer Marktforschung liegt in ihrer Fähigkeit, tiefgehende Einsichten in Kundenentscheidungen zu generieren. Aufgrund der intensiven Auseinandersetzung mit einzelnen Fällen lassen sich verborgene Motivationen erkannt und Innovations- oder Verbesserungspotenziale aufgedecken. Die flexible Datenerhebung ermöglicht es, den Forschungsprozess kontinuierlich anzupassen und neue Erkenntnisse zu integrieren.
Kernmethoden der qualitativen Forschung
- Narrative oder offene Interviews, auch als Tiefeninterviews bezeichnet
- Teilnehmende Beobachtung
- Fokusgruppen und Gruppendiskussionen
- Dokumentenanalyse
- Ethnografische Methoden
Die Datenanalyse in der qualitativen Forschung zeichnet sich durch ihre Mehrschichtigkeit aus. Aufgrund der sorgfältigen Inhaltsanalyse und des berücksichtigten Kontextes lassen sich theoretische Modelle entwickeln, die das Verhalten eines Menschen (auch als Teil einer Gruppe, wie einem Entscheidungsgremium) umfassend erklären.
Qualitätskriterien qualitativer Forschung
- Intersubjektive Nachvollziehbarkeit
Die Forschungsergebnisse müssen für andere Forscher nachvollziehbar und überprüfbar sein, indem das Vorgehen transparent nachvollziehbar dokumentiert wird. - Gegenstandsangemessenheit
Die gewählten Methoden müssen zum untersuchten Gegenstand passen und dessen Eigenheiten gerecht werden. - Empirische Verankerung
Interpretationen und Theoriebildung müssen eng an die erhobenen Daten gebunden sein und sich aus diesen ableiten lassen. - Limitation
Die Grenzen der Aussagekraft der Ergebnisse sind klar zu benennen und zu reflektieren. - Kohärenz
Die entwickelten Theorien und Interpretationen müssen in sich stimmig und widerspruchsfrei sein. - Relevanz
Die Forschungsergebnisse müssen einen praktischen oder theoretischen Mehrwert für das untersuchte Feld bieten.
Ergebnisdimensionen der qualitativen Forschung
Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die qualitative Marktforschung neue Insights für die Optimierung der Kundenansprache liefert.
- Tiefgehende Einsichten
- Umfassendes Verständnis von Kundenentscheidungen
- Erkennen verborgener Motivationen
- Aufdecken von Innovationspotentialen
- Flexible Datenerhebung
- Anpassungsfähige Gesprächsführung
- Integration neuer Erkenntnisse
- Iterative Forschungsdesigns
- Reichhaltige Datenanalyse
- Inhaltsanalyse auf mehreren Ebenen
- Berücksichtigung des Kontexts
- Entwicklung theoretischer Modelle
Nachteile der qualitativen Forschungsmethoden
Die qualitative Marktforschung steht vor spezifischen methodischen Herausforderungen. Die Subjektivität in der Dateninterpretation erfordert besondere Sorgfalt und methodische Reflexion. Es handelt sich jedoch auch um Training, aufgrund von vielen Interviewanalysen diese Distanz zum Untersuchungsgegenstand zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Die zeitintensive Datenerhebung und -analyse sowie die Komplexität der Analysemethoden stellen hohe Anforderungen an die Forscher.
Zudem muss man sich der Limitierungen bewusst sein: Die Ergebnisse sind nicht statistisch repräsentativ (was auch nicht das Ziel ist) und ihre Generalisierbarkeit über das vorhandene Projekt bzw. die Forschung hinaus ist begrenzt. Die höheren Kosten pro Teilnehmer erfordern eine sorgfältige Planung und Ressourcenallokation.
Leitfaden zur Durchführung qualitativer Marktforschung
Die qualitative Marktforschung erfordert ein systematisches und reflektiertes Vorgehen. Der Forschungsprozess beginnt mit der Entwicklung einer geeigneten Fragestellung und der Auswahl passender Erhebungsmethoden. Je nach Methode kann die Entwicklung eines Leitfadens zentral sein, der sowohl Struktur gibt als auch Raum für unerwartete Erkenntnisse lässt. Bei der Jobs-to-be-Done-Methode oder dem Buyer-Persona-Ansatz von Adele Revella geht man hingegen ohne Interview-Leitfaden vor. Stattdessen fokussiert man sich auf eine Eingangsfrage und orientiert sich im Fortschreiten des Gesprächs konsequent an den Entscheidungsphasen. Dies gibt dem Befragten die maximale Freiheit, um Aspekte zu benennen, die letztlich die neuen Erkenntnisse fundamental beeinflussen.
Bei der Datenerhebung ist die professionelle Moderation bzw. Interviewführung entscheidend. Sie muss ein Gleichgewicht zwischen notwendiger Steuerung und Offenheit für neue Perspektiven finden. Die systematische Dokumentation aller Schritte sichert die wissenschaftliche Qualität und ermöglicht die spätere Nachvollziehbarkeit. So zeichnen wir alle Interviews digital auf und verschriften sie, sodass die Analyse exakt am Datenmaterial erfolgen kann.
Die Datenauswertung folgt etablierten Verfahren wie der qualitativen Inhaltsanalyse oder eben Jobs-to-be-Done und Customer-led Growth in der Customer-Journey-Analyse. Dabei werden die Daten systematisch kodiert und kategorisiert, um Muster und Zusammenhänge zu erkennen. Die iterative Vorgehensweise ermöglicht es, neue Erkenntnisse kontinuierlich in die Analyse einzubeziehen.
Qualitative und quantitative Methoden kombinieren
In der Praxis wird die qualitative Marktforschung häufig mit quantitativen Methoden kombiniert. Diese Integration ermöglicht zusätzliche Erkenntnisse für die Kampagnenentwicklung, Konzepttests und die Optimierung von Marketingstrategien oder User Experience. Die Kombination beider Ansätze erlaubt es, sowohl die Tiefe des Verständnisses als auch die Breite der Erkenntnisse zu maximieren.
Qualitative Forschung kann dabei sowohl der quantitativen Erhebung vorgeschaltet sein, um Hypothesen zu generieren, als auch nachgelagert, um überraschende quantitative Befunde zu erklären. Besonders in der Produktentwicklung und UX-Optimierung hat sich dieser Mixed-Methods-Ansatz bewährt.
Wir selbst führen teilweise neben Interviews auch Online-Befragungen durch. Diese geben zumindest einen quantitativen Eindruck, ohne im strengen Sinne statistisch signifikant zu sein. Man erkennt z. B., dass eine Mehrheit der Befragten einen bestimmten Begriff verwendet. Dies lässt sich nicht im Sinne von x % interpretieren, hilft aber dennoch als Indikator, dass dieser Begriff in der Marketingkommunikation aufgenommen werden sollte.
Fazit: Qualitative Marktforschung in der Praxis
Die qualitative Marktforschung ist unerlässlich für fundierte Entscheidungen in der Marketingstrategie. Ihre wissenschaftliche Validität basiert nicht auf statistischen Verfahren, sondern auf systematischer, theoriegeleiteter Analyse der Daten. Die Stichprobengröße ist dabei weniger entscheidend als die Qualität der Datenerhebung und -analyse. Der Wert qualitativer Forschung liegt in ihrer Fähigkeit, tiefe Einblicke in das Verbraucherverhalten zu liefern und komplexe soziale Prozesse verständlich zu machen.
Die Kombination aus traditionellen qualitativen Methoden, z. B. der phänomenologischen Marktforschungstradition, und modernen Frameworks wie Jobs-to-be-Done ermöglicht es, sowohl die wissenschaftliche Fundierung als auch die praktische Anwendbarkeit der Erkenntnisse sicherzustellen. In einer Zeit, in der das beste Kundenverständnis zum entscheidenden Wettbewerbsfaktor wird, bietet die qualitative Marktforschung die notwendigen Werkzeuge für tiefgreifende Erkenntnisse und erfolgreiches Innovationsmanagement.
Beitragsbild generiert mit ChatGPT/DALL-E