Wollen B2B-Unternehmen die Customer Experience verbessern, müssen Sie die Perspektive Ihrer Zielgruppe möglichst präzise verstehen. Dieses Kundenwissen sollte allerdings nicht vom Vertrieb generiert werden. Das liegt an der Perspektive, die Verkäufer*innen dabei zwangsläufig einnehmen.
Wie kann Kundenwissen in B2B-Unternehmen entstehen?
Strukturiert erhobenes Kundenwissen ist in umkämpften B2B-Märkten der Schlüssel, mit dem Unternehmen das Tor zu entscheidenden Wettbewerbsvorteilen öffnen. Viele entwickeln hierfür inzwischen Buyer Personas oder nutzen ähnliche Konzepte, um bestehende Lücken zu schließen.
Unsere Agentur verwendet neben Buyer Personas zum Beispiel auch das Jobs-to-be-Done-Konzept für diese Aufgabe. Ziel ist jeweils, Kunden und ihre Entscheidungen besser zu verstehen. Das ermöglicht es, Marketing-Aktivtäten (Prozesse, Kommunikation etc.) punktgenau auf diese Zielpersonen auszurichten.
Wenn Unternehmen Kundenwissen erheben wollen, kommen sie häufig auf eine verlockende Idee: Sie entscheiden, dass Vertriebsmitarbeiter*innen die eigenen Kunden interviewen sollen. Das ist nach unserer Erfahrung aber nicht die beste Entscheidung.
Welche Herangehensweisen gibt es für die Datenerhebung?
In den Sozialwissenschaften gibt es in diesem Zusammenhang eine hilfreiche Unterscheidung. In der Anthropologie, aber auch in der philosophischen Schule der Phänomenologie trennt man zwischen einer emischen und einer etischen Perspektive. Hierbei handelt es sich um zwei unterschiedliche Herangehensweisen bei der Datenerhebung:
- Die emische Betrachtung erfolgt aus einem System heraus, d. h. der Beobachter und Analytiker ist Teil des betrachteten Systems. Diese Forschungsperspektive nimmt beispielsweise eine Anthropologin ein, die einige Jahre inmitten indigener Völker lebt und deren Verhaltensweisen studiert. Da sie nicht aus der Ferne mit einer Kamera auf das Geschehen schaut, sondern aktiv teilnimmt – beispielsweise beim gemeinsamen Essen oder bei Festen – ist sie Teil des Ganzen. Emisch ist also immer der Insider-Blick, der aus dem Inneren eines Systems erfolgt.
- Die etische Betrachtung nimmt hingegen ein Forscher ein, der ein System oder einen Prozess von außen betrachtet. Er nimmt nicht teil an dem Geschehen. Sein Blick ist also gerade nicht der eines Insiders, sondern immer der eines Außenstehenden. Dementsprechend ist in diesem Setting alles Teil der Analyse, während der Insider vieles als normal oder nicht erwähnenswert sieht. Von außen fallen somit mehr oder zumindest andere Dinge auf, da alles neu oder wenigstens unvertraut ist.
Beide Perspektiven sind wissenschaftlich wichtig und berechtigt. Es hängt vom Untersuchungsgegenstand ab, welche Perspektive man einnehmen will oder kann.
Bei Buyer Personas und Jobs-to-be-done stehen Entscheidungsprozesse im Zentrum unseres Interesses. Es sind Methoden, mit denen B2B-Anbieter verstehen, warum Kunden Entscheidungen treffen.
Buyer Personas basieren nicht auf Templates
Zum Teil besteht noch die Vorstellung von Buyer Personas als Beschreibungen fiktiver Entscheider:innen, die auf Basis von Templates erstellt werden können. Dieses Vorgehen wird jedoch von Expert:innen wie Adele Revella völlig zurecht als unzureichend zurückgewiesen.
Die emische Perspektive ist beim Erheben von Kundenwissen ein Hindernis
Anhand der Unterscheidung zwischen emischer und etischer Perspektive wird deutlich, warum Sales-Mitarbeiter:innen für die Befragung von Bestandskunden nicht die richtigen sind. Sie nehmen im Kundengespräch unweigerlich eine emische Perspektive ein.
Viele der Informationen, die Entscheider:innen in einem solchen Gespräch nennen, sind dem Sales aus dem Verkaufsprozess bekannt. Verkäufer:innen nehmen daher an, vieles davon sei allgemein bekannt und nicht erwähnenswert in der Zusammenfassung des Gesprächs. Diese Haltung führt dazu, dass wertvolles Wissen, das u. a. Marketing, Produktentwicklung und Service voranbringen könnte, weiterhin nicht strukturiert zusammengetragen wird.
Hinzu kommt: Verkäufer:innen werden immer wieder der Versuchung anheimfallen, das Gesagte nicht stehen zu lassen, sondern es vertrieblich bearbeiten wollen. Dementsprechend wird sich ein Interview zu einem Vertriebsgespräch entwickeln.
Es geht um Geschichten, nicht um Vertriebschancen
Dabei ist zu bedenken, dass Verkäufer*innen darauf trainiert sind, Einwände zu behandeln und Kunden zu ergründen. Im Hintergrund vergleichen sie also die Aussagen mit denen früherer Verkaufsgespräche. Sie bleiben beim Einzelfall und werden diesen unweigerlich beeinflussen. Sei es durch konkrete Fragen, Hinweise oder auch durch erzwungenes Schweigen.
Ziel eines Interviews ist jedoch, dass der Gesprächspartner aus seiner Erfahrung heraus alles sagen kann, ohne dass ihm oder ihr widersprochen wird. Sicherlich können Nachfragen gestellt werden, um Begründungen besser zu verstehen. Aber dies muss zwingend ohne Bewertung erfolgen, denn es geht nicht darum, die Handlungen der Entscheider*innen zu beeinflussen.
Buying-Center-Analysen sind eine Ausnahme
Eine emische Betrachtung kann für das Verständnis von Kunden und deren Verhalten jedoch auch interessant sein. Eine Buying-Center-Analyse, wie Sie vom Vertrieb häufig durchgeführt wird, nimmt diese emische Perspektive ein. Hier treffen sich Sales-Teams, um untereinander die Handlungen der Entscheider*innen zu besprechen und daraus Erkenntnisse für ihre zukünftige Ansprache abzuleiten.
Unserer Erfahrung nach erhalten Unternehmen dabei wichtige Informationen in Bezug auf die Dynamik in diesen Gremien:
- Welche Mitglieder sind typischerweise Teil des Buying Centers?
- Wer gibt in der Regel den Ton an?
- Wer wird erst später im Entscheidungsprozess hinzugezogen?
Das Ergebnis einer solchen Analyse sind jedoch meist einfache Heuristiken – erfahrungsbasierte Daumenregeln.
Bei Buying-Center-Analysen sind meistens auch externe Berater:innen oder Kolleg:innen aus anderen Bereichen (bspw. Marketing) anwesend. Wer glaubt, diese Personen könnten als Außenstehende eine etische Betrachtung einbringen, liegt leider falsch. Auch wenn Externe von außen schauen, können sie nur wahrnehmen, was die Vertriebs-Teams über die Kundeninteraktionen berichten, da sie selbst nicht am Sales-Prozess beteiligt sind.
Zusammengefasst
Unternehmen, die Kundenwissen erheben möchten, sollten diese Aufgabe nicht dem Vertrieb übertragen. Verkäufer:innen ist es aufgrund der emischen Perspektive, die sie im Gespräch mit Entscheider:innen zwangsläufig annehmen, kaum möglich, hierbei die Ergebnisse zu liefern, die Marketing, Service und Produktentwicklung voranbringen könnten. Gravierende Lücken, die in diesen Fachbereichen in Puncto Kundenwissen bestehen, lassen sich auf diese Weise leider nicht schließen.
Ein besseres Vorgehen ist, bei der Generierung des Kundenwissens mit externen Berater:innen zu arbeiten. Diese sind unvoreingenommen und verfolgen in der Interviewführung keine Eigeninteressen. Sie können die Prozesse von außen betrachten, indem sie die Entscheider*innen über ihre Kaufentscheidungsprozesse befragen, ohne durch eigenes Vorwissen verfälscht zu werden.